Naturverinselung im Viktoriasee: Ökologische Erbschaften der transimperialen Kampagne gegen die Schlafkrankheit

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Zur Eindämmung der Schlafkrankheit gingen die Kolonialmächte in Afrika am Beginn des 20. Jahrhunderts gesundheitspolitische und wissenschaftliche Kooperationen ein. Im Gebiet des Viktoriasees, das als zentraler Epidemieherd galt, wirkten sich die ergriffenen Maßnahmen auch auf die ökologische Umwelt gravierend aus. Eine bedeutende Folge der Epidemiepolitik bestand in der Verinselung von Natur. Dieser Ausdruck verweist auf einen Zusammenhang zwischen ökologischen, epidemiologischen, politischen und kulturellen Einflussgrößen, der in der transimperialen Kampagne gegen die Schlafkrankheit zum ersten Mal in Erscheinung trat und bis in die Gegenwart fortwirkt.

„Naturverinselung“ – das kann (mindestens) dreierlei meinen. Erstens lässt es sich auf Naturschutzinseln beziehen. Seit mehr als einem Jahrhundert zählt die Praxis, Meeres- oder auch Binneninseln den Tieren und Pflanzen zu überlassen, zum Instrumentarium des Naturschutzes. In den 1890er Jahren hat die britische Kolonialregierung Neuseelands mehrere vorgelagerte Kleininseln zu Naturreservaten erklärt, um dort Vogelarten zu schützen, die auf den neuseeländischen Hauptinseln durch das aus Europa eingeschleppte Hermelin gefährdet wurden.[1] Die weltweite Adaption des Modells verdankt sich wohl auch der nicht nur in abendländischen Denktraditionen verankerten Betrachtung von Inseln als Zufluchtsstätten, die in der Geschichte wie auch in phantastischen Erzählungen häufig Schutz vor Verfolgung boten.[2]

Eine zweite Bedeutungsebene birgt Übertragungscharakter: Auch auf dem kontinentalen Festland ist der Ort der wilden Natur heute meist ein insularer. Ein Wildnisgebiet gilt gemeinhin, so der Umwelthistoriker William Cronon, als „an island in the polluted sea of urban-industrial modernity“.[3] Gerade Nationalparks und ähnlich robust geschützte Naturreservate erfüllen mit ihrer vergleichsweise starken Abschottung gegenüber benachbarten Gebieten – der Anthropologe Dan Brockington hat dafür den Begriff „Festungsnaturschutz“ (Fortress Conservation) geprägt[4] – ein entscheidendes Definitionsmerkmal von Insularität, auch wenn sie nicht von Wasser umgeben sind.[5]

Was auf den ersten Blick nach einem Spezialthema der Umweltgeschichte klingen mag, offenbart bei näherer Betrachtung globalhistorische Tragweite. Nicht nur, dass die Naturverinselung durch Nationalparks eng mit den weltumspannenden Wertschöpfungsketten der Tourismusökonomie verwoben ist. Auch zur Covid-19-Pandemie und anderen neuen Seuchen des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts scheint ein Zusammenhang auf: Die Insularisierung von Wildtier-Habitaten durch die Abholzung tropischer Urwälder – und dies ist eine dritte Bedeutungsebene von „Naturverinselung“ – zählt zu den großen Risikofaktoren für die Ausbreitung infektiöser Tierkrankheiten und deren Übertragung auf Menschen.

Kolonialherrschaft als Kontrollverlust

Vieles spricht dafür, dass bäuerliche Gesellschaften in Ostafrika lange vor der Kolonialherrschaft um die Übertragung gefährlicher Infektionskrankheiten durch die Tsetse-Fliege wussten. In ihren Brandrodungen großer Vegetationsflächen, dem Aufrechterhalten unbewohnter Gebiete zwischen größeren Siedlungen („Grenzwildnisse“) und dem Bejagen von Wirtstieren lässt sich die Strategie erkennen, die Fliege systematisch von Menschen und ihrem Vieh fernzuhalten. Eine Trennung der Sphären von „Natur“ und „Kultur“, in der Forschung meist auf ideengeschichtliche Entwicklungen im neuzeitlichen Europa zurückgeführt, war in diesen Praktiken bereits angelegt, wenn auch, soweit bekannt, nicht begrifflich als solche gefasst.[6] Mithin bargen auch die Strategien der „peasant intellectuals“[7] Ostafrikas einen Aspekt der Verinselung – allerdings nicht von „Wildnis“, sondern invers dazu von den Gebieten der Menschen und Nutztiere.

Damit verbundene Praktiken des Rodens und Jagens beurteilten Wissenschaftler aus Europa um 1900 vielfach als ökologisch zerstörerisch. Der Leipziger Geograph Hans Meyer etwa bezeichnete die von ihm in Ostafrika beobachteten Brandrodungen als eine „wüste Raubwirtschaft“, die tropische Urwälder unwiederbringlich zerstöre: „Diese Menschen sengen und brennen nur, um immer wieder jungfräulichen Humusboden für ihre elenden Erbsenfelder zu gewinnen […]. Mit den Waldbränden legen diese ‚Kultivatoren‘ hundertmal mehr Wald nieder, als sie dem Flächenraum nach beackern können.“[8]

Die Entfaltung der britischen und deutschen Kolonialherrschaft in der Region während der 1890er Jahren beinhaltete eine Neuordnung der Beziehungen zwischen Menschen und ihrer ökologischen Umwelt nach den Maßgaben europäischer Naturvorstellungen, etwa durch Land-, Jagd- und Forstverordnungen. Unter dem Einfluss weißer Großwildjäger, die einen Verlust ihrer Beutetiere, ihrer Privilegien und der von ihnen mythisch verklärten wilden Natur Afrikas fürchteten, implementierten die neuen Obrigkeiten auch Maßnahmen zum Naturschutz. In den Anrainergebieten des Viktoriasees gingen sie gegen Brandrodungen vor und untersagten der Bevölkerung die Jagd auf Großwild.[9]

In der Folge wuchsen vormals durch Brandrodung kultivierte Weideflächen mit Buschwerk zu, das der Tsetse-Fliege ideale Brutbedingungen bot. Wegen des verminderten Jagdrucks vergrößerten sich Wildtierpopulationen und ihre Habitate; mit dem Wild als Zwischenwirt gelangte auch die Tsetse-Fliege näher an menschliche Siedlungen und verbreitete Viehseuchen auf den Weiden.[10] Manche Europäer sahen die Entwicklung positiv. So konnten Großwildjäger die begehrten Beutetiere leichter aufspüren als zuvor. Für naturwissenschaftlich informierte Zeitgenossen war indes absehbar, dass die Kolonialmächte ihr Zivilisierungsversprechen einer gesteigerten Naturbeherrschung mitnichten einzulösen vermochten, sondern vielmehr einen ökologischen Kontrollverlust herbeiführten.[11] Die gleichzeitige Epidemie der Rinderpest, eingeschleppt wohl durch Viehtransporte aus Indien zur Versorgung der italienischen Truppen im Eritreakrieg, tat dazu ihr Übriges.

Von der Verinselung der Infizierten…

Nachdem britische Forscher um 1900 den Parasit Trypanosoma gambiense als Erreger der meist tödlich verlaufenden Schlafkrankheit und die Tsetse-Fliegen der Palpalis-Gruppe als dessen Überträger identifiziert hatten, erhoben die Kolonialverwaltungen in Ost-, Zentral- und teils auch in Westafrika die Eindämmung der Krankheit zu einer vordringlichen Aufgabe. Deborah Neill, Mari K. Webel und jüngst Sarah Ehlers haben gezeigt, wie sich in dieser Kampagne ein Netzwerk von überwiegend britischen, deutschen, französischen und portugiesischen Wissenschaftlern und Institutionen der Mikrobiologie formierte. Obschon in verschiedenen Kolonialimperien verschiedene Maßnahmen priorisiert wurden, sollte sich diese transimperiale Kooperation für die Etablierung der Tropenmedizin als eigenständigem Fachgebiet als wegbereitend erweisen.[12]

Die Kolonialmächte reagierten mit ihrem Politikwandel von der Ignoranz zur Bekämpfung der Tsetse-Fliege auf eine schwere Epidemie der Schlafkrankheit, die sie 1901 zunächst im südlichen Uganda registrierten, wo vor allem die Ufer und Inseln des Viktoriasees betroffen waren. Dort raffte die Schlafkrankheit in vier Jahren mehr als 200.000 Menschen dahin, etwa ein Drittel der Bevölkerung. Rasch weitete sich die Epidemie auf weitere Anrainergebiete des Viktoriasees aus.[13] In Deutsch-Ostafrika identifizierte der Stabsarzt Oskar Feldmann ebenfalls die Ufer und Inseln des Sees als Kernverbreitungsgebiet der Fliege (Abb. 1).

(Abb. 1: Oskar Feldmann: Übersichtskarte des Deutschen Viktoria Nyanza zur Darstellung der Verbreitung der Glossina palpalis nach den Resultaten seiner Küstenbereisungen v. Stabsarzt Dr. Feldmann, in: Medizinalberichte über die deutschen Schutzgebiete 1905/1906 Anlage VIII/S. 116/117)

Bald folgten Ausbrüche in weiteren Gegenden des tropischen Afrikas wie Nordrhodesien, Njassaland und Französisch-Äquatorialafrika sowie im Sudan, im Kongobecken und auch im westlichen Afrika. Militäroperationen der Kolonialmächte begünstigten die epidemische Dynamik ebenso wie afrikanische Gemeinschaften, die ihr Vieh durch die Rinderpest verloren hatten und nun als Jäger umherstreiften.[14]

Um das Wissen über die Schlafkrankheit zu erweitern und Strategien für ihre Eindämmung zu entwickeln, sandten die Kolonialmächte bis zum Ersten Weltkrieg unabhängig voneinander 15 Forschungsexpeditionen ins tropische Afrika. Mal agierten diese in direktem Auftrag von Kolonialbehörden, mal unter der Ägide früher Institutionen der Mikrobiologie wie dem Instituto Bacteriológico de Lisboa oder der London School of Tropical Medicine. Nach Studien im Kongo-„Freistaat“ empfahlen britische Forscher 1905, Infizierte in Lagern zu isolieren und Gegenden mit hohen Infektionszahlen durch Mobilitätsbeschränkungen abzuschotten. Im Kongobecken setzten die belgischen Obrigkeiten vor allem auf polizeiliche Maßnahmen wie Reisekontrollen und die Zwangseinweisung von Infizierten in militärisch abgeriegelte Krankenstationen.[15]

Auf den Ssese-Inseln im Nordwesten des Viktoriasees, einem der am stärksten betroffenen Gebiete, erlaubte die britische Administration Ugandas einer deutschen Forschergruppe unter Leitung von Robert Koch die Einrichtung von Krankenlagern. Da Koch kein wirksames Medikament fand – seine hochriskanten Humanexperimente mit dem Arsenpräparat Atoxyl werden seitens der medizinhistorischen Forschung überwiegend als unsittlich beurteilt[16] –, richtete ab 1907 auch die Kolonialverwaltung in Deutsch-Ostafrika Krankenlager ein. Aufgrund von Personalmangel ließ sich die angestrebte Isolierung der Infizierten allerdings nicht durchsetzen, sodass die Behörden die therapeutische Praxis bald auf dezentrale Ambulanzen verlagerten.[17]

Zu noch einschneidenderen Maßnahmen griff derweil der Gouverneur von Uganda, Henry Hesketh Bell. Ab 1906 ließ er die an den Ufern lebenden Fischergemeinschaften ausweisen und verbot den Besitz und Handel von Fisch, um die Bevölkerung vom Viktoriasee fernzuhalten. Tatsächlich erzielte dieser Schritt einen beträchtlichen Rückgang der Sterbefälle. Zugleich aber wuchsen die verlassenen Felder rasch mit Vegetation zu, die den Wildtieren Nahrung und der Tsetsefliege neue Habitate bot.[18]

Zum Austausch über ihre Befunde und Erfahrungen suchten die Forscher und Ärzte transimperiale Kooperationen. Über individuelle Korrespondenzen hinaus kamen Wissenschaftler aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Portugal 1907 zu einer in London ausgerichteten Konferenz zusammen. Auch unternahmen deutsche Kolonialmediziner eine Exkursion in ein britisches Forschungslabor in Entebbe. Im Hinblick auf den See vereinbarten Großbritannien und Deutschland 1908 Grenzkontrollen, um die Mobilität von Infizierten einzuschränken, und verständigten sich über die Einrichtung von Krankenlagern im Grenzgebiet.[19] Zudem erlaubte die deutsche Administration der Royal Navy, die Deutsch-Ostafrika zugehörige südliche Hälfte des Viktoriasees zu kartieren (Abb. 2) – die deutsche Kolonialkartographie hatte noch keine hinreichend genauen Karten dieses Epidemieherds hervorgebracht.

Befunde britischer Pathologen, die in Rhodesien eine zweite, noch schwerer verlaufende Form der Schlafkrankheit identifizierten – verursacht vom Parasit Trypanosoma rhodesiense und übertragen von Tsetse-Fliegen der Morsitans-Gruppe –, erhöhten ab 1910 den Druck auf die Entscheidungsträger. In Deutsch-Ostafrika ging die Administration in Anbetracht der anhaltenden Erfolglosigkeit medikamentöser Therapien dazu über, die Ufergebiete des Viktoriasees roden zu lassen. Großflächige Abholzungen, wie sie auch in Uganda betrieben wurden, sollten der Fliege den für ihre Brutplätze benötigten Schatten nehmen. Auch wurden Krokodile intensiv bejagt, nachdem Kolonialärzte diese als Wirtstiere der Parasiten ausgemacht hatten.[20]

(Abb. 2: Benjamin Whitehouse: Victoria Nyanza (Southern Portion), Karte, 1:294.000. London: Admiralty, 1908. UK Hy-drographic Office Archive, OCB 3665)

…zur Verinselung von Natur

Da Mediziner bald erkannten, dass Trypanosomen auch andere Wirbeltiere als Wirte nutzen, entwarfen sie die „Vision der Zurückdrängung der Natur durch die Zerstörung von Wildtieren“, wie Ehlers es beschreibt.[21] Namhafte Forscher wie Robert Koch auf deutscher oder David Bruce auf britischer Seite konstatierten, dass im tropischen Afrika Nutztiere aufgrund der Bedrohung durch die Tsetse-Fliege nicht dauerhaft im selben Gebiet wie Wildtiere leben könnten. Damit hatten sie begriffen, was ein einfacher Bauer wohl längst wusste, doch gerade Bruce zog daraus unter dem Einfluss der kolonialen Zivilisierungsagenda weitaus radikalere Schlüsse. Ihm und anderen Tropenmedizinern erschienen Rückzugsräume für wilde Tiere nun zuvorderst als Brutstätten tödlicher Krankheiten, die dem Ziel beziehungsweise der Rechtfertigungserzählung einer Zivilisierung Afrikas im Wege standen. Daraus abgeleitete Strategien liefen auf eine systematische Ausrottung wilder Tiere im tropischen Afrika hinaus. Als erste dahingehende Schritte hoben die Administrationen in britischen Kolonien wie auch in Deutsch-Ostafrika Jagdbeschränkungen auf. Auch setzten die Kolonialverwaltungen Prämien auf die Erlegung von Tieren aus, die als Wirtsspezies der Tsetse-Fliege galten.[22]

All dies rief teils erbitterten Widerspruch von Naturschützern und Großwildjägern hervor – und auch von manchen Wissenschaftlern, die an der Datengrundlage oder an der Durchführbarkeit der Maßnahmen zweifelten. Schärfer noch als für Deutsch-Ostafrika wurde die Kontroverse für die britischen Kolonien geführt. Unter dem Eindruck der zahlreichen Einwände zögerten die Entscheidungsträger in London radikale Ausrottungsmaßnahmen hinaus; zunächst sollte die Funktionsweise der infrage stehenden Ökosysteme eingehender untersucht werden. Vorerst also führte die Initiative zur Tiervernichtung paradoxerweise dazu, dass jene Tiere intensiver beforscht und wissenschaftlich besser verstanden wurden als je zuvor.[23]

In Deutsch-Ostafrika erwies sich derweil die begonnene Rodung an den Ufern des Sees und auf Inseln wie Nazinga[24] bald als aussichtslos, da nicht ausreichend viele Arbeitskräfte mobilisiert werden konnten und die Vegetation rasch nachwuchs. Im Kernverbreitungsgebiet der Tsetse-Fliege griff die Kolonialverwaltung daher ab 1910 zum Instrument der Zwangsumsiedlung nach britischem Vorbild.[25] Unter anderem traf dies Fischereigemeinschaften wie die Banyarubondo, die im Südwestteil des Sees auf der Insel Rubondo lebten und 1911 auf die östlich gelegene Insel Kome umsiedeln musste. Rubondo und weitere „evakuierte“ Gebiete am gegenüberliegenden Ufer „kamen zu dem staatlichen Waldreservat“, wie der zuständige Stabsarzt Friedrich Karl Kleine berichtete.[26] Was als Abholzungs- und Ausrottungsprojekt begonnen hatte, mündete in einer Erweiterung von Forst- und Wildreservaten.

Die transimperiale Kooperation zur Eindämmung der Schlafkrankheit brach mit dem Beginn des Weltkriegs ab. Sie erfuhr in den 1920er Jahren eine Wiederbelebung in Gestalt internationaler Konferenzen und Expertenkommissionen, von denen viele auf Initiative des Völkerbunds zustande kamen. Daran hatte Deutschland infolge des Verlusts seiner Kolonien nur wenig Anteil. Allerdings verfügte es seinerzeit über die weltweit leistungsstärkste pharmazeutische Industrie, der noch während des Kriegs der Durchbruch in der Entwicklung eines Medikaments gegen die Schlafkrankheit gelungen war. Nach Kriegsende wurde die Distribution des von Bayer synthetisierten Mittels paradoxerweise stärker von zwischenstaatlichen Rivalitäten beeinträchtigt als zur Zeit des Hochimperialismus. Aus wirtschaftlichen Interessen und aus Protest gegen den Verlust ihrer Kolonien wollten die Deutschen die chemische Formel von „Germanin“ – so der dezidiert patriotisch gewählte Handelsname – nicht an britische und französische Hersteller weitergeben. In Frankreich gelang Pharmakologen 1924 eine Nachentwicklung des Bayer-Patents, vermarktet unter dem Namen „Moranyl“.[27]

Noch während des Kriegs übernahm Großbritannien die Verwaltung des größten Teils von Deutsch-Ostafrika – und erbte damit die dortigen Herausforderungen der Schlafkrankheit, die sich infolge der Zerstörung landwirtschaftlicher Flächen und kriegsbedingter Migration noch verschärft hatten. Charles Swynnerton, der als Leiter der Wildbehörde für das nun als „Tanganyika Territory“ bezeichnete Gebiet ab 1921 die Maßnahmen gegen die Schlafkrankheit verantwortete, ordnete neben neuerlichen Ausweisungen von Ufergemeinschaften auch Brandrodungen an. Durch regelmäßiges Feuerlegen sollten um Siedlungen herum vegetationsfreie „fly barriers“ geschaffen werden. Damit machten sich die kolonialen Obrigkeiten jene Verfahren der Verinselung zu eigen, die sie Afrikanerinnen und Afrikanern vor dem Krieg noch als unzivilisiert ausgelegt und verboten hatten.[28]

Natur vernichten …separieren …schützen: Das Beispiel Rubondo

Obwohl also die Naturverinselung in Ostafrika zu den Erbschaften der Kolonialherrschaft zählt, entschieden sich die nachkolonialen Regierungen bislang dagegen, mit ihr zu brechen. Viele Forst- und Wildreservate, die im Zuge der Kampagne gegen die Schlafkrankheit im Gebiet des Viktoriasees entstanden sind, haben die Dekolonisationsphase um 1960 überdauert und sind um zusätzliche Naturschutzgebiete erweitert worden. So dient auf kenianischer Seite die Kleininsel Ndere seit 1986 als Nationalpark. Auf ugandischer Seite betreibt das Jane-Goodall-Institut auf Ngamba, einer weiteren Kleininsel, seit 1998 eine Auffangstation für verwaist aufgefundene Schimpansen; auch verteilen sich über die Inselgruppe Buvuma mehr als zwei Dutzend Forstreservate. Auf tansanischer Seite findet sich auf der Kleininsel Saanane ein junger Nationalpark – gegründet erst 2013 –; zuvor betrieb die Regierung hier ab 1964 einen der in Ostafrika seltenen Zoos.

Den größten und bedeutendsten Überrest der kolonialmedizinisch motivierten Naturverinselung bildet indes Rubondo. Die bereits erwähnte Insel behielt den ihr von den Deutschen zugewiesenen Status eines Forstreservats während der britischen Herrschaft bei. Allerdings gestattete die britisch-koloniale Forstbehörde es den Banyarubondo, auf die Insel zurückzukehren.[29] In der Umbruchphase von der spät- zur nachkolonialen Herrschaft gelang es der letzten Generation britischer Wildhüter in Tanganjika, die Zuständigkeit für Rubondo auf die Wildbehörde zu übertragen, um dort eine kleine Population von Spitzmaulnashörnern anzusiedeln. Aufgrund der Insellage, so ihr Hauptargument, könnten die Tiere dort effektiver vor Wilderei geschützt werden als in weitläufigen Savannen wie der Serengeti.[30] Für die Banyarubondo folgte daraus eine erneute Ausweisung; im Dezember 1963 überbrachte ihnen der Distriktkommissar eine Ausreiseverfügung.[31]

Der 1964 als erster Schwarzer eingesetzte Leiter der Wildbehörde, Hassan Mahinda, trug die Ausweisung der Banyarubondo mit, lehnte jedoch die Ansiedlung weiterer Tierarten auf der Insel als unsinnig ab.[32] Demgegenüber sah Bernhard Grzimek, der als Direktor des Frankfurter Zoos in jenen Jahren den Ausbau der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt zu einer international agierenden Naturschutzorganisation vorantrieb, in Rubondo ideale Voraussetzungen für den Schutz von Schimpansen, die er als in der freien Wildbahn akut bedroht betrachtete. Mitte 1966 ließ Grzimek elf Schimpansen, durch Schenkungen und Käufe aus europäischen Tiergärten beschafft, per Schiff von Antwerpen nach Dar es Salaam und von dort per Lastwagen und Boot auf die Insel bringen.[33]

Um Rubondo zu einer touristisch attraktiven Reisedestination auszugestalten, siedelte die Zoologische Gesellschaft Frankfurt in den folgenden Jahren weitere Tierarten auf der Insel an, darunter Elefanten, Pferdeantilopen, Stummelaffen und Moschusböckchen.[34] Als sich die Wildbehörde unter dem Druck eines Haushaltseinschnitts ab 1971 aus der Finanzierung dieser Maßnahmen zurückzog, geriet das Projekt ins Stocken und die geplante Ansiedlung von weiteren Spezies wie Gorillas kam nicht zustande.[35] Indem das tansanische Parlament Rubondo 1977 zum Nationalpark erklärte, übertrug es die Zuständigkeit auf die finanziell besser ausgestattete Nationalparkbehörde und ebnete den Weg für den Aufbau einer touristischen Infrastruktur.[36] Aus einem Separierungsprojekt, das 1909 mit dem Ziel der Vernichtung von Natur begonnen hatte, war das größte Insel-Naturschutzgebiet Afrikas geworden.

Ökologische Inversionen: Grüne Inseln in einem sterbenden See?

Manche Aspekte, die eine Geschichte der Naturverinselung im Gebiet des Viktoriasees zu berücksichtigen hätte, sind nun noch gar nicht genannt. Dazu zählt der See selbst. Er gilt heute weithin als mahnendes Beispiel für die Zerstörung eines Ökosystems durch die Einschleppung von Neobiota. Vor allem die in den 1950er Jahren zur Förderung der Fischereiwirtschaft angesiedelten Nilbarsche und die wohl in den 1980er Jahren eingeschleppte Wasserhyazinthe führten den Viktoriasee in eine Biodiversitätskrise, die Ende der 1990er Jahre ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte. In einer solchen Umgebung erscheinen Inseln wie Rubondo, Saanane und Ndere nicht mehr nur in geologischer, sondern auch in ökologischer Hinsicht als Inversion des Gewässers: als mikrokosmische Naturparadiese in einer Umwelt an der Schwelle zum Kollaps. Es ist ein wirkmächtiges Bild, das sich mit kulturell tief verankerten Narrativen wie der Geschichte von Noahs Arche verbindet und das leicht in Vergessenheit geraten lässt, wie gravierend die Natur jener Inseln zugerichtet worden ist – und welche Aporien und Friktionen das ökologische Erbe der transimperialen Kampagne gegen die Schlafkrankheit bis heute beladen.

Weiterführende Literatur

Ehlers, Sarah: Europa und die Schlafkrankheit. Koloniale Seuchenbekämpfung, europäische Identitäten und moderne Medizin, 1890–1950, Göttingen 2019.

Gißibl, Bernhard: The Nature of German Imperialism: Conservation and the Politics of Wildlife in Colonial East Africa, Oxford/New York 2016.

Headrick, Daniel R.: Sleeping Sickness Epidemics and Colonial Responses in East and Central Africa, 1900–1940, in: PLoS Negl Trop Dis. 8/4 (2014): e2772. doi: 10.1371/journal.pntd.0002772.

Neill, Deborah J.: Networks in Tropical Medicine: Internationalism, Colonialism, and the Rise of a Medical Specialty, 1890–1930, Stanford 2012.

Webel, Mari K.: The Politics of Disease Control. Sleeping Sickness in Eastern Africa, 1890–1920, Ohio 2019.


[1] Peter J. Bellingham et al.: New Zealand Island Restoration: Seabirds, Predators, and the Importance of History, in: New Zealand Journal of Ecology 34/1 (2010), S. 115–136, hier S. 116.

[2] Anna Boswell: Settler Sanctuaries and the Stoat-free State, in: Animal Studies Journal 6/2 (2017), S. 109–136, hier S. 113f., 117.

[3] William Cronon: The Trouble with Wilderness; or, Getting Back to the Wrong Nature, in: ders. (Hg.): Un-common Ground: Rethinking the Human Place in Nature, New York 1995, S. 69–90, hier S. 69.

[4] Dan Brockington: Fortress Conservation: The Preservation of the Mkomazi Game Reserve, Tanzania, Bloomington 2002.

[5] Ich folge hier der Auffassung Sujit Sivasundarams, dass Insularität nicht naturräumlich gegeben ist, sondern durch Praktiken des Abschottens erzeugt wird. (Sujit Sivasundaram: Islanded: Britain, Sri Lanka and the Bounds of an Indian Ocean Colony, Chicago 2013.)

[6] Diese Deutung ist in den 1970er Jahren von John Ford entwickelt und durch Helge Kjekshus untermauert worden: John Ford: The Role of the Trypanosomiases in African Ecology: A Study of the Tsetse Fly Problem, London 1971; Helge Kjekshus: Ecology Control and Economic Development in East African History: The Case of Tanganyika, 1850–1950, Berkeley 1977.

[7] Mit diesem Ausdruck hat Steven Feierman die Regenpriester, Heiler und Lehrer der Shambaa bezeichnet, die sich in den Usambara-Bergen mit Zusammenhängen zwischen Land, Gesellschaft, Regen und Heilung befassten. (Steven Feierman: Peasant Intellectuals: Anthropology and History in Tanzania, Madison 1990.)

[8] Hans Meyer: Ergebnisse einer Reise durch das Zwischenseengebiet Ostafrikas 1911, Berlin 1913, S. 41.

[9] Exemplarisch für Deutsch-Ostafrika Bernhard Gißibl: The Nature of German Imperialism: Conservation and the Politics of Wildlife in Colonial East Africa, Oxford/New York 2016.

[10] James Giblin: The Politics of Environmental Control in Northeastern Tanzania, 1840–1940, Philadelphia 1992.

[11] Joachim Radkau: Natur und Macht: Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2000, S. 194f.

[12] Sarah Ehlers: Europa und die Schlafkrankheit. Koloniale Seuchenbekämpfung, europäische Identitäten und moderne Medizin, 1890–1950, Göttingen 2019; Deborah J. Neill: Networks in Tropical Medicine: Internationalism, Colonialism, and the Rise of a Medical Specialty, 1890–1930, Stanford 2012; Mari K. Webel: The Politics of Disease Control. Sleeping Sickness in Eastern Africa, 1890–1920, Ohio 2019.

[13] Daniel R. Headrick: Sleeping Sickness Epidemics and Colonial Responses in East and Central Africa, 1900–1940, in: PLoS Negl Trop Dis. 8/4 (2014): e2772. doi: 10.1371/journal.pntd.0002772.

[14] Ebd.

[15] Ebd.

[16] Wolfgang U. Eckart: Medizin und Kolonialimperialismus: Deutschland 1884–1945, Paderborn et al. 1997.

[17] Eckart: Medizin und Kolonialimperialismus, S. 340–9; ders.: The Colony as Laboratory: German Sleeping Sickness Campaigns in German East Africa and in Togo, 1900–1914, in: History and Philosophy of the Life Sciences 24/1 (2002), S. 69–89, hier S. 70–78; Ehlers: Europa und die Schlafkrankheit, S. 183–202; Hiroyuki Isobe: Medizin und Kolonialgesellschaft. Die Bekämpfung der Schlafkrankheit in den deutschen „Schutzgebieten“ vor dem Ersten Weltkrieg, Münster 2009, S. 70–75.

[18] Headrick: Sleeping Sickness Epidemics and Colonial Responses in East and Central Africa.

[19] Headrick: Sleeping Sickness Epidemics and Colonial Responses in East and Central Africa.

[20] Ebd.; Isobe: Medizin und Kolonialgesellschaft, S. 118–115.

[21] Ehlers: Europa und die Schlafkrankheit, S. 172.

[22] Ebd., S. 170–176.

[23] Ebd., S. 177–181.

[24] B. Eckard: Schlafkrankheit Ihangiroküste und Massinga-Inseln, 07.11.1909. Bundesarchiv R1001/5903, S. 18.

[25] Eckart: The Colony as Laboratory, S. 70–78; Isobe: Medizin und Kolonialgesellschaft, S. 136.

[26] Friedrich K. Kleine: Schlafkrankheit (Trypanosomiasis), in: Medizinal-Berichte über die Deutschen Schutzgebiete 1909/1910, Berlin 1911, S. 51–57, hier S. 53.

[27] Headrick: Sleeping Sickness Epidemics and Colonial Responses in East and Central Africa.

[28] Ebd.

[29] Yyustina A. Kiwango, Hobokela R. Mwamjengwa, Steria R. Ndaga: Rubondo Island National Park: Draft Report on Ethnoecology Study, Arusha 2007, S. 4.

[30] P. Achard an B. G. Kinloch, 21.11.1961. National Archives of Tanzania, Acc. 599, GD/14/18, Game Catching for Translocation and Re-stocking by Game Dept.

[31] H. S. Mahinda: Rubondo Island Forest Reserve Referred to Letter No. Rub/33 of 25th April, 1964. 08.05.1964. National Archives of Tanzania, Acc. 599, GD/14/18, Game Catching for Translocation and Re-stocking by Game Dept.

[32] J. S. G. Capon: Translocation of Animals. TNA, Acc. 599, GD/14/18, Game Catching for Translocation and Re-stocking by Game Dept.

[33] Felix Schürmann: Heimkehr ins Neuland: Die erste Auswilderung von Schimpansen und ihre Kontexte im postkolonialen Tansania, 1965–1966, in: Forschungsschwerpunkt „Tier – Mensch – Gesellschaft“ (Hg.): Vielfältig verflochten: Interdisziplinäre Beiträge zur Tier-Mensch-Relationalität, Bielefeld 2017, S. 275–292; Josephine N. Msindai, Christian Roos, Felix Schürmann, Volker Sommer: Genetically Deduced Origin and Population History of Chimpanzees Introduced to Lake Victoria’s Rubondo Island, in: Primates, 02.02.2021, https://doi.org/10.1007/s10329-020-00884-5.

[34] Monica Borner: Translocation of 7 Mammal Species to Rubondo Island National Park in Tanzania, in: L. Nielsen, Robert D. Brown (Hg.): Translocation of Wild Animals. Milwaukee 1988, S. 117–122.

[35] W. Brockmann an B. Grzimek, 19.11.1971. Zoologische Gesellschaft Frankfurt, Afrika, 00001970; W. Brockmann: Project Evaluation of the Rubondo Island Game Reserve; Project Annual Report 1971. Zoologische Gesellschaft Frankfurt, Afrika, 00001970.

[36] Kiwango, Mwamjengwa, Ndaga: Rubondo Island National Park, S. 2.

Author profile

Felix Schürmann is a historian specialising in modern Africa and its global entanglements as well as the history of the maritime world. Since 2018 he is a project leader of a research association at the University of Erfurt that investigates how oceanic cartography facilitated globalisation during the nineteenth and early twentieth centuries. He is also working on a monograph about the history of Rubondo Island (Tanzania), which was transformed into Africa’s first conservation island during the postcolonial transition in the 1960s and 1970s. In his PhD dissertation (Goethe University Frankfurt, 2014) he investigated encounters and relations between littoral societies on the east and west coasts of Africa and whaling crews from North America and Great Britain in the eighteenth and nineteenth centuries. Further research interests include the history of islands and processes of islanding in the global tropical belt and the significance of waterbodies in the modern history of Africa.

Website:
https://www.uni-erfurt.de/forschungskolleg-transkulturelle-studien/ueber-uns/personen/postdocs/dr-felix-schuermann

Publications (selected):
- »Eine neue Arche für die alte Ordnung: Die Tierumsiedlungen aus dem Flutungsgebiet der Kariba-Talsperre (Zentralafrikanische Föderation) und ihre fotografische Repräsentation, 1958–1963.« WerkstattGeschichte 82 (2020): 95–107.
- mit Wolfgang Struck, Iris Schröder & Elena Stirtz: Karten-Meere. Eine Welterzeugung. Wiesbaden: Corso, 2020.
- »Heimkehr ins Neuland: Die erste Auswilderung von Schimpansen und ihre Kontexte im postkolonialen Tansania, 1965–1966.« Vielfältig verflochten: Interdisziplinäre Beiträge zur Tier-Mensch-Relationalität. Hrsg. Forschungsschwerpunkt »Tier - Mensch - Gesellschaft«. Bielefeld: Transcript, 2017: 275–92.
- Der graue Unterstrom: Walfänger und Küstengesellschaften an den tiefen Stränden Afrikas, 1770–1920. (=Globalgeschichte, Bd. 25.) Frankfurt a. M./New York: Campus, 2017.
- »Ungeahnte Wege: Mobilitätserfahrungen des befreiten Sklaven Timbo Samuel Samson im südlichen Afrika des 19. Jahrhunderts.« Historische Anthropologie 17.1 (2009): 75–91.

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